Kann man wirklich Portraits fotografieren, ohne ein Gesicht scharf abzubilden? 
Diese Frage beschäftigt mich schon länger … 
Abstrakte Portraitfotografie mit Intentional Camera Movement schien ein Widerspruch in sich. Doch inspiriert durch die Begegnungen beim Rencontre de la Photographie in Arles dieses Jahr, wagte ich den Versuch.
Meine liebe Fotografie-Freundin Susanne Bartels und ich besuchten an einem Tag unseres Besuches beim Rencontre eine Ausstellung in einer zauberhaften kleinen Kapelle und auf einmal kam mir eine Idee. 
Ich fragte sie, ob sie Lust auf ein kleines Experiment hätte. 😉
Was entstand, war mehr als ein klassisches Portrait: 
Es war die Sichtbarmachung einer Anwesenheit – flüchtig, intuitiv und zutiefst menschlich.
In diesem Beitrag teile ich dieses Erlebnis einer ICM-Portraits-Session und möchte Deine Wahrnehmung dafür schärfen, warum gerade Ganzkörperaufnahmen eine neue Dimension der Menschendarstellung eröffnen und auch mit der ICM Technik möglich sein können.
Was macht abstrakte Portraits aus?
Künstlerische Portraitfotografie löst sich von der reinen Dokumentation eines Gesichts. Während klassische Aufnahmen auf Schärfe, erkennbare Mimik und die “Fenster zur Seele” setzen, geht dieser Ansatz einen anderen Weg:
- Essenz statt Details 
 Nicht das Aussehen, sondern das Sein wird sichtbar
- Emotion über Identität
 Die Stimmung einer Begegnung, nicht die Identifikation
- Das Unsichtbare wahrnehmen
 Die Aura, die Energie, wie jemand einen Raum einnimmt
Mit der ICM-Technik (Intentional Camera Movement) wird diese Form möglich. Die bewusste Kamerabewegung während der Belichtung löst Konturen auf und schafft Raum für Interpretation – genau dort, wo klassische Fotografie fixiert.

Warum Ganzkörperportraits? 
Der Mensch und sein Umfeld
Mein Experiment konzentrierte sich bewusst nicht auf Gesichtsaufnahmen, sondern auf den ganzen Körper. 
Warum? Weil der gesamte Körper eine Sprache spricht, die oft unterschätzt wird.
Anwesenheit sichtbar machen
Ein Mensch nimmt Raum ein. Er bewegt sich durch ihn, interagiert mit Licht und Architektur, hinterlässt eine Spur seiner Anwesenheit. ICM macht genau diese Präsenz im Raum erlebbar:
- Körperhaltung als Ausdruck
 Wie jemand steht, geht, sich bewegt – das erzählt mehr als Mimik
- Bewegung wird sichtbar
 Der Fluss des Moments statt eingefrorener Augenblick
- Verschmelzung mit der Umgebung
 Die Person wird als Teil des Ganzen wahrgenommen
- Energie und Aura
 Das Unsichtbare wird spürbar
In der Kapelle, umgeben von sakraler Architektur und besonderem Licht, wurde die Anwesenheit meiner Freundin auf eine Weise sichtbar, die mit klassischer Schärfe nicht möglich gewesen wäre.
Mein Experiment: ICM-Portraits in der Kapelle
Das Setting
Die kleine Kapelle als Ausstellungsraum bot die perfekte Bühne. Der sakrale Raum mit seiner besonderen Atmosphäre, dem einfallenden Licht und der reduzierten Architektur schuf einen Dialog zwischen Mensch und Ort.
Der Prozess
Inspiriert durch die Begegnungen beim Rencontre, wo ich die Kraft von ICM für architektonische und natürliche Motive bereits erlebt hatte, war es sehr spannend zu experimentieren: Funktioniert das auch bei Menschen?
Ein spontanes Experiment – 15 Minuten, ein Ort
Es ist mir wichtig zu erwähnen: 
Das Ganze war vollkommen spontan. Wir hatten keine aufwändige Planung, kein durchdachtes Konzept – nur die Neugier und den Mut, es einfach zu versuchen. In nur etwa 15 Minuten entstanden alle Aufnahmen, an einem einzigen Platz in der Kapelle. Meine Freundin bewegte sich in diesem begrenzten Raum, ich experimentierte mit verschiedenen Kamerabewegungen.
Für eine ausgiebige Portraitsession würde man natürlich deutlich mehr Zeit einplanen, verschiedene Orte innerhalb des Raumes nutzen, mit unterschiedlichen Lichtquellen experimentieren und so abwechslungsreichere Bilder schaffen. Doch gerade die Spontaneität und zeitliche Begrenzung dieses Experiments zeigen: 
Abstrakte Portraitfotografie kann spontan entstehen und von der Intuition des Moments leben. Dieses Experiment beweist das. 
Für abwechslungsreichere, vielfältigere Ergebnisse bräuchte es natürlich mehr Zeit, verschiedene Orte und Settings – doch der künstlerische Ansatz funktioniert auch in 15 Minuten an einem einzigen Platz.
Die Herausforderung:
- Vertrauen schaffen
 Meine Freundin musste sich auf das Experiment einlassen
- Intuition folgen
 Wann bewegt sie sich? Wann bewege ich die Kamera?
- Loslassen
 Keine Kontrolle über das Ergebnis – pure Gegenwart
Was entstanden ist
Die Bilder zeigen nicht wer meine Freundin ist, sondern wie sie ist. Ihre Anwesenheit wird spürbar – nicht durch erkennbare Gesichtszüge, sondern durch:
- Die Art, wie ihr Körper mit dem Licht interagiert
- Die Spur ihrer Bewegung durch den Raum
- Die Verschmelzung von Mensch und Architektur
- Das Gefühl einer flüchtigen Begegnung
Diese Form dokumentiert nicht – sie erinnert.

Die Philosophie dahinter
Vergänglichkeit der Begegnung
Jede Begegnung mit einem Menschen ist einzigartig und flüchtig. Kein Moment gleicht dem anderen. 
Künstlerische Portraitfotografie mit ICM macht genau diese Vergänglichkeit erlebbar:
- Der Mensch “verschwindet” förmlich im Bild, während er gleichzeitig präsent ist
- Die Anwesenheit bleibt als Gefühl, nicht als scharfes Abbild
- So nehmen wir Begegnungen in Erinnerung wahr – emotional gefärbt, nicht dokumentarisch
Intuitive Wahrnehmung
Diese Herangehensweise fordert und fördert die intuitive Wahrnehmung des Betrachters. Es gibt keine vorgefertigte Interpretation. Jeder sieht etwas anderes, fühlt etwas anderes – genau wie im echten Leben jeder einen Menschen anders wahrnimmt.
Respekt und Würde
In dieser Arbeitsweise liegt ein besonderer Respekt:
- Keine Objektivierung
 Die Person wird nicht “festgehalten” oder ausgestellt
- Schutz der Identität
 Die Essenz bleibt, die Privatsphäre gewahrt
- Lebendigkeit bewahren
 Der Mensch bleibt im Fluss, nicht erstarrt
- Einzigartigkeit ohne Identifikation
 Erkennbar einzigartig, aber nicht identifizierbar

Technik: Wie funktioniert ICM bei Menschen?
Grundlegende Einstellungen
Für abstrakte Portraitfotografie mit ICM benötigst Du:
- Belichtungszeit: 1/15 bis 1 Sekunde (je nach gewünschtem Effekt)
- ISO: Moderat (100-400), um längere Belichtungszeiten zu ermöglichen
- Blende: Abhängig vom Licht, oft f/8-f/16
- Bewegung: Bewusste Kamerabewegung während der Belichtung
Besonderheiten bei Ganzkörper-Aufnahmen
Das räumliche Verhältnis eines ganzen Körpers zu erfassen, erfordert:
- Größere Bewegungsfläche
 Mehr gestalterische Möglichkeiten
- Licht und Schatten
 Über den ganzen Körper verteilt
- Interaktion mit Architektur
 Der Mensch als Teil des Raumes
- Die Spur der Bewegung
 Der Weg wird zum gestalterischen Element
Der Dialog zwischen Fotografin und Model
Diese Arbeitsweise ist kein einseitiger Akt. 
Es braucht:
- Kommunikation
 Das Model muss verstehen, worum es geht
- Vertrauen
 Sich auf das Unbekannte einlassen
- Intuition
 Beide müssen dem Moment folgen
- Geduld
 Nicht jede Aufnahme gelingt – das ist Teil des Prozesses
Was unterscheidet künstlerische von klassischen Portraits?
| Klassisch | Abstrakt mit ICM | 
| Zeigt wer jemand ist | Zeigt wie jemand ist | 
| Fokus auf Gesicht und Mimik | Fokus auf Körpersprache und Anwesenheit | 
| Dokumentiert Identität | Erinnert an Begegnung | 
| Schärfe als Qualitätsmerkmal | Bewegungsunschärfe als künstlerisches Mittel | 
| Person isoliert | Person verschmilzt mit dem Raum | 
| Objektive Wiedergabe | Subjektive Wahrnehmung eingeladen | 
ICM-Portraits sind keine “bessere oder schlechtere” Form eines Portraits – sie sind eine andere Form der Würdigung eines Menschen und seiner Ausstrahlung.
Von der Frage zur Überzeugung
Meine anfängliche Skepsis – “Kann man wirklich Portraits mit ICM machen?” – hat sich in Überzeugung verwandelt. 
Ja, man kann.!
Aber es sind Portraits der anderen Art.
Diese Arbeitsweise zeigt:
- Nicht das Gesicht, sondern die Ausstrahlung
- Nicht die Fassade, sondern die Essenz
- Nicht den eingefrorenen Moment, sondern den Fluss des Augenblicks
Die Einzigartigkeit jeder Begegnung
Jedes dieser Bilder ist absolut einzigartig – genau wie jede Begegnung mit einem Menschen. 
Abstrakte Portraitfotografie erinnert uns daran:
- Wir können nie das “Ganze” eines Menschen erfassen
- Unsere Wahrnehmung ist immer subjektiv
- Begegnungen sind flüchtig und wertvoll
- Anwesenheit ist mehr als physische Präsenz
Vertrauen in die Intuition
Der Prozess hat mich gelehrt, noch mehr meiner Intuition zu vertrauen. Nicht jedes Bild ist “gelungen” im technischen Sinne – aber jedes Bild ist authentisch. Es zeigt den Moment, wie sich das Model gefühlt hat und wie ich diesen Moment empfunden habe.

Tipps für deine eigenen Experimente
1. Wähle den richtigen Ort
Charaktervolle Räume – sakrale Orte, alte Gebäude, Galerien – eignen sich perfekt für diese Art der Fotografie.
2. Kommuniziere deine Vision
Erkläre dem Model, dass es nicht um ein “perfektes” Abbild geht, sondern um die Erfassung eines Gefühls, einer Atmosphäre.
3. Experimentiere mit Bewegung
- Nur das Model bewegt sich
- Nur die Kamera bewegt sich
- Beide bewegen sich gleichzeitig
Jede Variante erzeugt unterschiedliche Effekte.
4. Nutze das Licht bewusst
Licht wird bei ICM noch wichtiger. Es zeichnet die Bewegung nach und schafft die Atmosphäre – achte auf Reflexionen, die gegebenenfalls stören können
5. Lass los
Du wirst das Ergebnis nicht vollständig kontrollieren können. 
Das ist der Kern von ICM – und genau das macht es so authentisch.
Eine neue Form des Portraits
Abstrakte Portraitfotografie mit ICM ist mehr als nur eine Technik – sie ist eine Philosophie. Sie lädt uns ein, anders über Begegnungen nachzudenken:
- Was nehmen wir wirklich wahr, wenn wir einem Menschen begegnen?
- Ist es das scharfe Bild oder das Gefühl einer Anwesenheit?
- Können wir einen Menschen besser verstehen, wenn wir seine Essenz spüren statt seine Details zu analysieren?
Mein Experiment in der Kapelle hat mir gezeigt: Künstlerische Portraitfotografie kann befreien – sowohl den Fotografierten als auch den Fotografen. 
Sie schafft Raum für Interpretation, für Intuition, für das bewusste Erleben des flüchtigen Moments.
Vielleicht ist das die ehrlichste Form: die Anerkennung, dass wir nie das Ganze erfassen können – und die Würdigung der Präsenz im Raum 
als ausreichend, 
als wertvoll, 
als Kunst.
Wenn Du nun Lust bekommen hast selbst zu experimentieren, dann wünsche ich Dir viel Spass und Erfolg!
Hat dieser Artikel Neugier in dir geweckt? Möchtest du erleben, wie es ist, nicht “abgebildet”, sondern in deiner Essenz “gespürt” zu werden? 
Wie es sich anfühlt, deine Präsenz im Raum auf diese einzigartige, künstlerische Weise festzuhalten? 
Dann freue ich mich darauf, von dir zu hören 
– lass uns gemeinsam dein ganz persönliches ICM-Portrait schaffen.

FAQ: Häufige Fragen zu ICM-Portraits
Kann man mit ICM wirklich Portraits fotografieren?
Ja, besonders gut funktioniert es bei Ganzkörperaufnahmen. Statt das Gesicht scharf abzubilden, erfasst du die Anwesenheit und Essenz der Person.
Welche Kameraeinstellungen brauche ich?
Längere Belichtungszeiten (1/15 – 1 Sekunde), moderate ISO (100-400) und bewusste Kamerabewegung während der Belichtung sind die Grundlage.
Was ist der Unterschied zu klassischen Portraits?
Klassische Portraits fokussieren auf Schärfe und erkennbare Details. ICM-Portraits zeigen die Essenz und die emotionale Qualität einer Begegnung.
Muss das Model sich bewegen?
Nicht unbedingt. Du kannst auch die Kamera bewegen, während das Model stillsteht. Oder ihr bewegt euch beide. Experimentiere!
Wie erkläre ich meinem Model die Idee?
Erkläre, dass es nicht um ein erkennbares Abbild geht, sondern um das Gefühl der Begegnung. Zeige Beispielbilder und betone, dass die Person nicht “erkennbar” sein wird.
 
				